Verjüngungskur für alte Dame

Großprojekt: Auf der Erlenbacher Schiffswerft bekommt ein in die Jahre gekommener Frachter neue Böden - ein Rundgang auf dem Gelände

Foto: Julia Preißer

Erlenbach. Meter für Meter schiebt sich der Koloss aus dem Wasser. Kapitän, Matrosen, Hellingsmeister und Elektriker arbeiten zusammen, um das Frachtschiff an Land zu bringen. 700 Tonnen wiegt die Wunnenstein. Sechs Hellingswägen sind nötig, um das Schwergewicht herauszuziehen. Per Funkgerät sind alle Beteiligten miteinander verbunden. Schon früh am Morgen hat der Hellingsmeister die Wägen in den Main gefahren.

Nun ist es am Kapitän, den Frachter auf die Wägen zu bugsieren. Dabei zählt jeder Zentimeter. Hellingsmeister Iwan Pripužić schwenkt die Arme: "Mehr nach links!" Auf Deck warten die Matrosen auf ihren Einsatz. Mit geübtem Wurf befestigen sie das Tau an den Holzlatten, die nun Schiff und Wägen miteinander verbinden. Oben im Hellingsturm hält sich Elektriker Thomas Jung bereit. Er steuert die Seilwinden, die die Wunnenstein auf Schienen an Land ziehen. Weil das Schiff an den Seiten schwer und in der Mitte etwas leichter ist, muss Jung die Spannung regelmäßig prüfen. Auf dem Bildschirm leuchten die Symbole grün: Alles in Ordnung!

Der 50 Jahre alte Frachter aus Heilbronn bekommt neue Innen- und Außenböden. Die Generalüberholung zählt als Großprojekt. 120 bis 150 Aufträge dieser Größenordnung schafft die Erlenbacher Schiffswerft im Jahr. Hinzu kommen etwa 50 kleinere Reparaturen. Die Werft ist weit über die Region hinaus bekannt. Zwischen Duisburg und Linz ist sie die einzige, die Schiffe mit einer Länge von bis zu 135 Meter an Land nehmen kann. Fast jeder Frachtschiffer, der regelmäßig auf dem Main unterwegs ist, war schon einmal hier. Viele wissen um die traditionsreiche Geschichte der Werft. Der Name Anton Schellenberger ist allen ein Begriff.

Schellenberger hatte den Schiffbau am bayerischen Untermain revolutioniert. 1652 gründete der Schiffbauer auf der gegenüberliegenden Mainseite in Wörth die erste Werft. In den Folgejahren siedelten sich vier weitere Betriebe an. Die Werften bauten zunächst Schiffe aus Holz, ab 1900 auch Eisenschiffe. 1918 verlegte der Familienbetrieb seine Werft nach Erlenbach. Mit der Umsiedlung änderte sich der Name: Aus der Schiffswerft Anton Schellenberger wurde die Bayerische Schiffsbaugesellschaft (BSG).

Kurze Einbußen hatte sie in der Weimarer Republik. Die Alliierten Besatzer sperrten die Rheinschifffahrt, was sich auch auf den Untermain auswirkte. Im zweiten Weltkrieg baute der Betrieb Fährprähme und Artillerieträger für die Marine sowie Landungsboote für das Heer. Spitzenumsätze erreichte die BGS in den 1950er Jahren: Unter den deutschen Binnenschiffswerften konnte nur sie Schiffe dieser Tragfähigkeit händeln. Die internationale Konkurrenz war es schließlich, die die BGS in die Knie zwang. 1996 meldete der Betrieb Insolvenz an. Heute ist die Werft in Privatbesitz der Familie Brunner, die Inhaber der Schifffahrtsgesellschaft Domarin.

Zirka 50 Handwerker arbeiten in den Erlenbacher Werkshallen. Zwei Drittel davon sind fest angestellt. Ein Drittel kommt aus Osteuropa und arbeitet als externe Kraft. In der Werkshalle geben sich Schweißer, Schreiner, Schlosser und Schiffbauer die Klinke in die Hand. Der Baggerponton ist fast fertig. Von der ersten bis zur letzten Schraube hat die Werft die schwimmende Plattform hochgezogen. Der Ponton soll später seinen Einsatz im Baugewerbe finden - etwa beim Bau neuer Überwasserbrücken. Weil Pontons in der Regel keinen eigenen Antrieb haben, bringt ein Schlepper die Plattformen an ihren Einsatzort.

Zurück zum Großprojekt Wunnenstein: Der Frachter hat es mittlerweile an Land geschafft. Hellingsmeister Iwan Pripužić und sein Team haben ihn so ausgerichtet, dass er exakt über den Ruderlöchern liegt. Diese unterirdischen Kammern machen es den Arbeitern leichter, das neue Ruder einzubauen. Genauigkeit hat Priorität. Industriemeister Leo Olfert vermisst den Neuankömmling: 105 Meter Länge kann die alte Dame vorweisen. 76,5 Meter davon entfallen auf den zweiteiligen Laderaum. Der Industriemeister notiert eine Breite von 7,8 Metern. Sie ist besonders wichtig. Denn sobald die Schiffsböden auseinandergenommen sind, wird das Schiff instabil. Deshalb fertigen die Arbeiter passgenaue Stahlträger zum Fixieren.

Zwei Wochen später zeigt der Blick in den Schiffsbauch ein Gerippe: 76 Meter Spantwerk liegen in Blöße. Aus einer Wolke von Rauch taucht ab und an der Kopf eines Arbeiters auf. Das, was vom alten Schiffsboden übrig ist, wird ausgebrannt. Mit Handbrennern rücken die Schiffsbauer dem Gerüst zu Leibe. In der Luft schwebt der Geruch von heißem Stahl. Eine Flamme - menschenhoch - züngelt in den Schiffsbauch. Die Arbeiter tragen Schutzkleidung, müssen dem Feuer aber trotzdem ausweichen. Wie flinke Artisten trippeln sie auf dem Spantwerk. Die Bewegung auf den Trägerteilen ist längst Gewohnheit. Nur einmal sei ein Arbeiter gestützt, erinnert sich Geschäftsführer Josef Honner. Der Mann sei zwischen die Querträger gerutscht und habe sich die Rippen gebrochen. Honner zeigt auf einen Wust aus Kabeln und Schläuchen, der sich durch das Spantwerk schlängelt. "Das sind die Stolperfallen."

Mit dem vorderen Teil des Laderaums sind die Schiffsbauer fast fertig. Aufregung liegt in der Luft. Gleich bekommt die Wunnenstein ihren neuen Unterboden. Drei Männer positionieren sich auf der einen, drei weitere auf der anderen Seite des Schiffs. Aus 25 Metern Höhe steuert Kranführer Peter Czellnik den 40 Meter langen Ausleger. An einer Kette baumelt Teil 1b des Schiffbodens. Czellnik muss sich konzentrieren. Er soll den biegsame Schiffsboden auf Führungsschienen platzieren. Von dort soll der Boden an seinen finalen Ort am Unterbauch des Frachters gleiten. Behutsam setzt der Kranführer die Kante des Bodens auf den Schienen auf. Metall klingt auf Metall. Die Arbeiter justieren nach und bringen den Boden in Postion. Der Boden biegt sich, sucht sich seinen Platz auf den Rollen der Führungsschiene und saust seiner Bestimmung entgegen. Abschnitt eins ist nun fertig. Sechs Wochen dauert es insgesamt, bis die verjüngte Dame ihren Landgang beendet hat.

Selbstversuch: Einmal den Werft-Kran steuern

Hammer Aussicht! Ich lasse meinen Blick über Main und Werft-Gelände schweifen. Von der Kabine des blauen Krans kann man halb Erlenbach überblicken. Nur nach unten mag ich nicht sehen. 25 Meter geht es in die Tiefe. Unter mir steht Geschäftsführer Josef Honner und knipst Bilder. Ich sei die erste Frau am Steuer des Krans, sagt er. Ich nehme es als Kompliment, auch wenn es mir nicht passt, dass die Betonung auf dem Wort "Frau" liegt. Es sollte einen "Girls-Day" für zukünftige Kranführerinnen geben, denke ich. Der Kranführer der Werft heißt Peter Czellnik aber in 25 Metern Höhe nennt man sich beim Vornamen - also nur Peter. Der Sitz auf dem ich Platz nehme, sieht ein bisschen aus wie ein abgeranzter Autositz. Peter quetscht sich stehend neben mich. Obwohl es draußen 30 Grad misst, ist es in dem winzigen Kabinchen angenehm kühl. "Klimaanlage", sagt Peter. "Hab ich mir einbauen lassen." Am Ausleger vor mir baumelt eine Kette, an der normalerweise Schiffsteile hängen. Ich soll nach rechts fahren, nur nach rechts. "Nicht nach vorne!", warnt Peter. Ich drücke den Joystick nach rechts aber es passiert einfach nichts. Muss man einen Gang einlegen? Ich gucke fragend, da setzt sich der Kran in Bewegung. Aus den Augenwinkeln sehe ich den Werft-Turm näherkommen. "Jetzt mal Stopp", sagt Peter. "Nicht dass wir mit der Kette hängenbleiben." Der Kran fährt noch ein paar Meter, bis er zum Stehen kommt. Ich begreife: Alles eine Frage des Timings! Kette und Kran-Kabine sind auf der richtigen Höhe und der Turm bleibt unbeschadet. Wir fahren zwei Runden. Dann kommt die schwerste Prüfung: Der Weg nach unten. Hoch war schon nicht ohne. Auf der Sprossenleiter muss jeder Tritt sitzen. Runter stelle ich mir noch schwieriger vor. Peter will vorausklettern, damit ich unter mir statt dem Abgrund seinen Kopf sehe. Ich weiß nicht, ob er sich damit einen Gefallen tut, denn wenn ich falle, ist er ja mit dran. Aber ich bin um jede Hilfestellung dankbar. Ich kauere mich auf die Plattform und angle mit dem Fuß nach der ersten Sprosse. Der Abstieg dauert eine gefühlte Ewigkeit. Ein Meter, eine Minute. Peter klettert wie ein Ninja voraus und ist plötzlich zehn Meter unter mir. "Peter!", kreische ich. "Ich hab Angst!" -- "Nur noch zwei Meter", schreit Peter. "Von wegen!" Ich bin panisch, muss aber lachen. Dann reiße ich mich zusammen. Rechtes Bein, linkes Bein. Rechter Arm, linker Arm. Irgendwann sehe ich das Fenster des Kranturms weit über mir und wage einen Blick nach unten. Jetzt sind es wirklich nur noch zwei Meter. Ich atmete aus. Krasse Sache, denke ich. Kaum habe ich meinen Fuß auf den Boden gesetzt, da wetzt Peter auch schon wieder hoch. 25 Meter, 25 Sekunden.

Erschienen am 13. Juli 2021 im Main Echo 
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